Ein Lagerfeuer. Simpel. Geht man näher ran, wird es heiß. Geht man weg, wird es kalt. Logisch, oder? Das ist die Physik aus dem Schulbuch. Unser eigener Stern, die Sonne, scheint dieses Lehrbuch aber zerrissen zu haben. Ihre Oberfläche? Glühende 5.500 Grad Celsius. Ziemlich heiß. Aber was passiert, wenn man sich von dieser Oberfläche entfernt, hinaus in die geisterhafte Atmosphäre der Sonne, die Korona? Es wird nicht kälter. Es wird heißer. Unfassbar viel heißer.
Die Temperatur explodiert auf über eine Million Grad. Manchmal zwei. Das ist, als würde die Luft meterweit vom Lagerfeuer entfernt plötzlich anfangen zu kochen. Ein Paradoxon. Ein Rätsel, das Wissenschaftlern seit Jahrzehnten Kopfzerbrechen bereitet. Die eine, große Frage lautet: Warum ist die Sonnenkorona so heiß?
Diese Frage ist viel mehr als nur akademische Neugier. Ihre Antwort ist der Schlüssel zum Sonnenwind, zum Weltraumwetter und letztlich zu unserem Platz in einem dynamischen, manchmal stürmischen Sonnensystem. Kommen Sie mit auf eine Spurensuche, von der Sonnenoberfläche bis an den Rand ihrer Atmosphäre, um die Verdächtigen zu finden, die für diese unvorstellbare Hitze verantwortlich sein könnten.
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Schutz durch das Erdmagnetfeld vor dem Sonnenwind
Schlüsselerkenntnisse
- Das zentrale Paradoxon: Die Korona, die äußerste Atmosphäre der Sonne, ist mit über 1 Million Grad Celsius hunderte Male heißer als die Sonnenoberfläche (ca. 5.500 °C), was den grundlegenden Gesetzen der Thermodynamik zu widersprechen scheint.
- Die Hauptverdächtigen: Zwei führende Theorien versuchen, das Rätsel zu lösen. Die eine postuliert, dass Energie durch magnetische Wellen (sogenannte Alfvén-Wellen) nach oben transportiert wird. Die andere geht von unzähligen, winzigen Eruptionen aus, den Nanoflares, die die Korona kontinuierlich aufheizen.
- Detektive im All: Missionen wie die Parker Solar Probe der NASA fliegen aktiv durch die Korona, um Daten vor Ort zu sammeln. Ihre Entdeckungen liefern entscheidende Hinweise, um die Theorien zu überprüfen und das Rätsel zu lösen.
- Relevanz für die Erde: Das Verständnis der koronalen Heizung ist entscheidend, um den Sonnenwind zu verstehen. Dieser Strom geladener Teilchen beeinflusst das Weltraumwetter, das wiederum unsere Satelliten, Stromnetze und die Sicherheit von Astronauten bedrohen kann.
- Die wahrscheinlichste Antwort: Es gibt keine einzelne, einfache Antwort. Die aktuelle Forschung deutet stark darauf hin, dass eine Kombination aus verschiedenen Prozessen, einschließlich Wellen und Nanoflares, für die extreme Hitze der Korona verantwortlich ist.
Ein Temperatur-Rätsel, das die Physik auf den Kopf stellt
Um dieses Problem wirklich zu fassen zu bekommen, müssen wir uns die Sonne genauer ansehen. Sie ist kein simpler Feuerball, sondern eher eine Zwiebel mit mehreren Schichten. Und jede dieser Schichten hat ihren eigenen Charakter.
Was genau ist die Sonnenkorona überhaupt?
Die Korona ist die alleräußerste Hülle der Sonnenatmosphäre. Ein riesiger, unvorstellbar heißer Heiligenschein aus Plasma. Das ist ein Gas, das so extrem erhitzt wurde, dass die Elektronen von den Atomkernen getrennt wurden. Dieses Plasma ist unfassbar dünn, viel dünner als jedes Vakuum, das wir auf der Erde herstellen können. Deshalb ist ihr Leuchten auch so schwach.
Wir können sie mit bloßem Auge nur während einer totalen Sonnenfinsternis sehen. In diesen magischen Momenten, wenn der Mond die helle Sonnenscheibe perfekt abdeckt, tritt sie hervor: eine geisterhafte, silberweiße Krone, die sich Millionen von Kilometern in den Weltraum erstreckt. Ein atemberaubender Anblick. Aber hinter dieser geisterhaften Schönheit lauert das physikalische Rätsel.
Moment mal, sollte es nicht kälter werden, je weiter man sich entfernt?
Genau hier gerät die Physik, wie wir sie kennen, ins Schleudern. Denken Sie zurück an das Lagerfeuer. Die Energiequelle ist die Flamme. Dort ist es am heißesten. Jeder Zentimeter Abstand kühlt die Luft ab, weil weniger Energie ankommt. Das diktiert der zweite Hauptsatz der Thermodynamik: Wärme fließt immer von heiß nach kalt. Niemals umgekehrt.
Bei der Sonne sitzt der Fusionsreaktor, die primäre Energiequelle, tief im Kern. Von dort wandert die Energie nach außen. Die sichtbare Oberfläche, die Photosphäre, ist quasi die „Herdplatte“ der Sonne. Alles, was weiter weg ist, müsste also kälter sein. Die darüberliegende Chromosphäre ist zwar schon etwas wärmer, aber der gewaltige Temperatursprung in die Korona lässt sich damit nicht erklären. Es ist, als würden Sie von Ihrer Herdplatte weglaufen und feststellen, dass die Luft an der gegenüberliegenden Küchenwand kochend heiß ist.
Irgendetwas muss also Energie von der kühleren Oberfläche nach oben in die dünne Korona schleudern. Eine Art unsichtbare Heizung. Aber was könnte das sein?
Die Verdächtigen: Theorien, die das Unmögliche erklären wollen
Die Jagd nach diesem mysteriösen Heizmechanismus hat zwei Hauptverdächtige ins Visier genommen. Beide hängen eng mit dem mächtigsten Merkmal der Sonne zusammen: ihrem unglaublich komplexen und wilden Magnetfeld.
Könnten Wellen die heimlichen Heizer sein?
Die erste große Theorie handelt von Wellen. Aber keinen gewöhnlichen Schall- oder Lichtwellen. Hier geht es um magnetohydrodynamische (MHD) Wellen. Ein kompliziertes Wort für eine einfache Idee: Wellen, die sich durch magnetisiertes Plasma bewegen. Die Sonnenoberfläche ist ein brodelnder Kessel. Riesige Blasen aus heißem Gas steigen ständig auf und sinken wieder ab. Dieses unaufhörliche Brodeln zerrt und zupft an den Magnetfeldlinien, die wie Spaghetti im Plasma schwimmen.
Dieses Gezerre erzeugt Wellen, die an den Magnetfeldlinien emporklettern, direkt in die Korona.
Was sind denn bitte Alfvén-Wellen?
Im Rampenlicht dieser Wellen stehen die sogenannten Alfvén-Wellen, eine Idee des Nobelpreisträgers Hannes Alfvén. Stellen Sie sich ein langes Seil vor, das Sie an einem Ende schwingen. Die Energie wandert als Welle bis zum anderen Ende. Bei der Sonne ist das Seil eine Magnetfeldlinie und das Schwingen ist das Brodeln auf der Oberfläche.
Die Theorie geht davon aus, dass diese Alfvén-Wellen Unmengen an Energie von der dichten Oberfläche durch die dünneren Schichten hindurch bis in die Korona transportieren. Dort, in der extrem dünnen Atmosphäre, bricht die Welle – ganz so wie eine Meereswelle am Strand. Beim Brechen gibt sie ihre Energie an die umgebenden Teilchen ab, peitscht sie auf hohe Geschwindigkeiten und heizt so die Korona auf Millionen Grad auf. Lange war das nur eine Theorie, doch inzwischen haben wir diese Wellen tatsächlich beobachtet. Die offene Frage ist: Reicht ihre Kraft allein aus?
Oder ist es ein Sturm aus winzigen Explosionen?
Die zweite Theorie ist mindestens genauso spannend. Sie stammt vom legendären Astrophysiker Eugene Parker. Seine Idee: Die Korona wird nicht durch einen gleichmäßigen Prozess wie Wellen aufgeheizt, sondern durch ein unaufhörliches Bombardement winziger Explosionen. Er nannte sie „Nanoflares“.
Das Magnetfeld der Sonne ist kein ordentlicher Stabmagnet. Es ist ein chaotisches Knäuel aus unzähligen magnetischen Schleifen, die aus der Oberfläche schießen. Die ständige Bewegung auf der Sonne verdreht und verzwirbelt diese Schleifen wie Gummibänder, die man immer weiter aufdreht.
Was hat es mit diesen „Nanoflares“ auf sich?
Wenn sich zwei dieser verdrehten, entgegengesetzt gerichteten Feldlinien berühren, kommt es zum Kurzschluss. Sie verbinden sich neu und setzen dabei schlagartig all die aufgestaute Energie frei. Dieser Prozess, magnetische Rekonnexion genannt, ist auch die Ursache für die gigantischen Sonneneruptionen. Parkers Geniestreich war die Vermutung, dass es neben diesen riesigen, sichtbaren Eruptionen auch unzählige winzige, unsichtbare geben muss – die Nanoflares.
Ein einzelner Nanoflare ist nur ein Flüstern. Aber Milliarden davon, alle gleichzeitig? Das wäre ein tosendes Inferno, das die Korona permanent zum Glühen bringt. Die Schwierigkeit war lange, diese Mini-Explosionen nachzuweisen. Sie sind so klein und zahlreich, dass sie im allgemeinen Leuchten der Korona einfach untergehen.
Die Beweise: Was sagen die Sonden, die der Sonne so nahe kommen?
Theorien sind eine Sache, harte Fakten eine andere. Um dieses Rätsel zu knacken, müssen wir hin und nachmessen. Und genau das tun wir seit ein paar Jahren mit einer der kühnsten Missionen der Raumfahrtgeschichte.
Welche Rolle spielt die Parker Solar Probe bei der Lösung dieses Rätsels?
Die Parker Solar Probe der NASA ist ein technologisches Wunderwerk, gebaut, um dorthin zu fliegen, wo noch niemand war: mitten durch die Sonnenkorona. Mit einem futuristischen Hitzeschild ausgestattet, taucht die Sonde immer wieder in die Atmosphäre der Sonne ein und misst direkt vor Ort das Plasma, die Magnetfelder und die hochenergetischen Teilchen. Sie „berührt“ die Sonne.
Was sie bisher herausgefunden hat, stellt vieles auf den Kopf. Die Sonde hat nicht nur die Alfvén-Wellen bestätigt, sondern auch plötzliche, S-förmige Kehrtwendungen im Magnetfeld entdeckt, sogenannte „Switchbacks“. Diese seltsamen Strukturen könnten die rauchenden Colts sein – die Spuren von Energiefreisetzungen durch Nanoflares. Die Daten der Parker Probe geben den Forschern endlich die Puzzleteile in die Hand, um die Theorien direkt am Tatort zu überprüfen.
Gibt es noch andere Detektive im All?
Ja, Parker ist nicht allein unterwegs. Der Solar Orbiter der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) und der NASA ist ihr Partner. Während Parker direkt ins Feuer fliegt, beobachtet der Solar Orbiter das Geschehen aus einer gewissen Entfernung und aus einem neuen Blickwinkel, der ihm sogar einen Blick auf die Pole der Sonne erlaubt. Er hat sowohl Teleskope an Bord, um die Sonne zu filmen, als auch Instrumente, um die Umgebung zu messen.
Dieses Teamwork ist Gold wert. Der Solar Orbiter kann eine Eruption auf der Sonne sehen, während Parker die Teilchenwolke misst, die von dieser Eruption getroffen wird. So bekommen die Wissenschaftler ein 3D-Bild der Vorgänge und können Ursache und Wirkung direkt miteinander verbinden.
Das große Ganze: Warum ist dieses Rätsel so wichtig für uns auf der Erde?
Okay, eine superheiße Sonnenatmosphäre – warum sollte uns das hier unten auf der Erde kümmern? Ist das nicht nur etwas für Astrophysiker in ihren Elfenbeintürmen? Weit gefehlt. Die Antwort hat handfeste Konsequenzen für unser modernes Leben.
Hat die Hitze der Korona irgendwelche Auswirkungen auf uns?
Und wie! Die extreme Hitze der Korona ist der Motor des Sonnenwindes. Das Plasma dort oben ist so unglaublich heiß, dass die Schwerkraft der Sonne es nicht mehr festhalten kann. Es entweicht permanent und rast mit Hunderten von Kilometern pro Sekunde ins All. Das ist der Sonnenwind. Ohne die Millionen Grad der Korona gäbe es ihn nicht in dieser Form. Und dieser Sonnenwind prägt unser gesamtes Sonnensystem, von den Schweifen der Kometen bis zu den Magnetfeldern der Planeten – auch unserem.
Und warum sollten wir uns für den Sonnenwind interessieren?
Der Sonnenwind ist der Hauptverantwortliche für das Weltraumwetter. Meistens ist er harmlos, aber die Sonne hat auch ihre Wutausbrüche. Bei koronalen Massenauswürfen (CMEs) schleudert sie Milliarden Tonnen Plasma ins All. Trifft eine solche Wolke die Erde, kann das unser Magnetfeld verbiegen und massive Störungen verursachen. Eine gute Vorhersage ist daher überlebenswichtig für unsere Technologie.
Ein starker Sonnensturm kann zu Folgendem führen:
- Satellitenausfälle: Die Elektronik von GPS- und Kommunikationssatelliten kann durchbrennen.
- Stromausfälle: In Stromnetzen können gewaltige Ströme entstehen, die Trafos zerstören und ganze Regionen lahmlegen.
- Gefahr für Astronauten: Die erhöhte Strahlung ist eine ernste Bedrohung für Menschen im All.
- Wunderschöne Polarlichter: Die gute Nachricht ist, dass der Sonnenwind auch für die faszinierenden Polarlichter verantwortlich ist.
Wenn wir also verstehen, wie die Korona geheizt wird, verstehen wir auch den Motor des Sonnenwindes besser. Das ist die Grundlage, um das Weltraumwetter zuverlässiger vorhersagen zu können.
Das Urteil: Was ist also die wahrscheinlichste Antwort?
Nach Jahrzehnten der Forschung, unzähligen Beobachtungen und den revolutionären Daten der neuen Raumsonden wird das Bild klarer. Die Frage lautet nicht mehr: Theorie A oder Theorie B? Sie lautet: Wie spielen beide zusammen?
Ist es nun die Wellen-Theorie oder die Nanoflare-Theorie?
Die beste Antwort, die wir derzeit haben, ist: beide. Es sieht so aus, als hätte die Natur sich nicht für eine Methode entschieden, sondern nutzt ein ganzes Arsenal an Heizmechanismen. Die Realität ist komplex. Wahrscheinlich liefern die Alfvén-Wellen die Grundlast an Energie, eine Art Fußbodenheizung für die gesamte Korona. Die Nanoflares und andere explosive Ereignisse wirken dann wie zusätzliche, lokale Heizstrahler, die besonders in den aktiven Regionen für extreme Temperaturen sorgen.
Manche Forscher vermuten, dass die Wellen in den ruhigen „koronalen Löchern“ dominieren, aus denen der schnelle Sonnenwind strömt. In den dichten Magnetschleifen darüber könnten hingegen die Nanoflares die Hauptrolle spielen. Die Wahrheit liegt in einem komplizierten Tanz dieser Kräfte.
Werden wir das Rätsel jemals vollständig lösen?
Die endgültige, lückenlose Antwort steht noch aus. Aber wir sind näher dran als je zuvor. Jeder Tiefflug der Parker Solar Probe bringt neue Daten, die unsere Modelle auf den Prüfstand stellen. Jeder neue Blick des Solar Orbiters enthüllt ein weiteres Detail der solaren Maschinerie.
Die Jagd nach der koronalen Hitzequelle ist Wissenschaft wie aus dem Bilderbuch. Sie beginnt mit einer simplen Frage: Warum wird es dort oben heißer, nicht kälter? Diese Frage treibt uns an, die Grenzen des Möglichen zu verschieben und Sonden an die unwirtlichsten Orte zu schicken. Die Antwort, wenn wir sie finden, wird nicht nur ein altes Rätsel lösen. Sie wird unser Wissen über alle Sterne im Universum erweitern und uns helfen, unsere fragile, technologische Welt vor den Launen unseres Heimatsterns zu schützen. Die Sonne verrät ihre Geheimnisse nicht leichtfertig. Aber sie verrät sie. Und das ist vielleicht die aufregendste Erkenntnis von allen.
Häufig gestellte Fragen – Warum ist die Sonnenkorona so Heiß

Welche Rolle spielen Raumsonden wie die Parker Solar Probe bei der Lösung des Rätsels?
Die Parker Solar Probe fliegt bis in die Korona der Sonne und misst direkt vor Ort Plasma, Magnetfelder und hochenergetische Teilchen. Ihre Daten haben bereits bestätigt, dass Alfvén-Wellen existieren, und zeigen Strukturen wie Switchbacks, die Hinweise auf Nanoflares geben. Diese Erkenntnisse sind entscheidend, um die Theorien über die Koronale Heizung zu überprüfen.
Warum sollte uns die Hitze der Korona interessieren?
Die Hitze der Korona ist entscheidend für den Sonnenwind, einen Strom geladener Teilchen, der ins All strömt und das Weltraumwetter beeinflusst. Das Verständnis dieser Prozesse hilft, Vorhersagen über Sonnenstürme zu treffen, die Satelliten, Stromnetze und die Sicherheit von Astronauten gefährden können. Außerdem erklärt es Phänomene wie Polarlichter auf der Erde.
Warum ist die Sonnenkorona so viel heißer als die Sonnenoberfläche?
Die Sonnenkorona ist mit über einer Million Grad Celsius viel heißer als die Oberfläche der Sonne bei etwa 5.500 Grad Celsius, was den Grundgesetzen der Thermodynamik widersprechen könnte. Die derzeitige Forschung vermutet, dass sowohl magnetohydrodynamische Wellen, insbesondere Alfvén-Wellen, als auch Nanoflares, kleine Explosionen, die durch magnetische Rekonnexion verursacht werden, die Korona kontinuierlich aufheizen. Wahrscheinlich ist eine Kombination aus beiden Prozessen verantwortlich.